Was erhoffst du dir, wenn du ein Fantasy Buch anfängst? Ich für meinen Teil erhoffe mir, neben einer guten Geschichte, viele coole Ideen, die ich noch nicht kenne und Konzepte, die mir neu erscheinen. Kurzum: Ich hoffe darauf, etwas neues zu lesen.
In vielen Fällen ist Fantasy sehr gut in der Erfüllung dieser Hoffnung (in vielen allerdings auch nicht, aber das hier soll kein Artikel sein, in dem ich auf das Genre schimpfe). In den letzten Jahren habe ich viele Bücher gelesen, die mir interessante Welten näherbringen konnten, die voll von coolen Kreaturen, Spezies und Magie waren. Und eins haben die meisten dieser Bücher gemeinsam: Sie bestehen nicht nur aus neuen, krassen Ideen. Nein, sie vermischen die altbekannten Tropes und Elemente mit neueren, interessanteren Ideen.
Der Grund dafür ist simpel: Es ist einfacher, Leser:Innen an neue Konzepte und Ideen heranzuführen, wenn man ihnen vorher etwas gegeben hat, was sie schon kennen. Erst einmal gibt man ihnen ein Fundament, das sie schon aus anderen Büchern kennen: Eine Zaubererschule, eine Gruppe von Helden auf der Reise, eine Welt, die im europäischen Mittelalter angesiedelt ist (oder auch eine Welt, die an unsere Moderne angelehnt ist). An diese Elemente können Leser:Innen sich schneller gewöhnen, sie finden einen leichteren Zugang zu dem Werk. Und so werden sie sich leichter auf die neueren, vielleicht weirderen Elemente einlassen können, die eingeführt werden.
Brandon Sanderson nennt diese Konzept das »strange and familiar«. Laut ihm brauchen viele Leser:Innen ein gewisses Maß an »familiar« in den Büchern, die sie lesen. Aber gleichzeitig wollen sie auch etwas neues haben, etwas, das sie noch nicht kennen, das »strange«. Diese beiden Elemente müssen sich möglichst die Waage halten. Sollte das »strange« von Anfang an zu stark sein, könnte man damit Leser:Innen eher abschrecken.
Doch der britische Autor China Miéville fährt einen ganz anderen Ansatz. Wird man zu einem seiner Bücher greifen, im speziellen zur Bas-Lag Trilogie, um die es in diesem Artikel hauptsächlich gehen soll, wird man kaum Elemente vorfinden, die einem »familiar« erscheinen, und dafür hauptsächlich welche, die »strange« sind.
Ich entdeckte das erste Buch der Trilogie, »Perdido Street Station«, vor ein paar Jahren und war sofort absolut beeindruckt davon. Von der ersten Seite an wurde ich mit komplett neuen und verdammt interessanten Ideen überschüttet, die ich in der Form noch nirgendwo gesehen hatte. Das ganze vermischt mit einer Handlung, die sich nur schwer, wenn überhaupt, zusammenfassen lässt. Keinerlei Schablonen, die einem ansonsten aus Fantasy bekannt vorkommen könnten, keine Zauberschule, kein einfacher Bauernjunge, der über sich hinauswachsen muss, kein europäisches Mittelalter, keine Quest, die die Helden bestehen müssen, generell keine Helden.
Es ist, als hätte sich China Miéville zum Ziel gesetzt, die Leser:Innen so schnell wie möglich so sehr wie möglich zu befremden, aber gleichzeitig auch in den Bann zu ziehen. Das Buch beginnt, nach einer kurzen Beschreibung der Stadt, in der es spielt, mit unserer Hauptfigur, einem Wissenschaftler, der gerade mit seiner Freundin geschlafen hat.
Doch diese ist kein Mensch, sondern ein Khepri, welche in dieser Welt eine Art Fusion aus Menschen und Käfern sind. Der Körper einer menschlichen Frau, aber als Kopf ein Skarabäus. Zu Beginn wird die Liebe, die unsere Hauptfigur gegenüber seiner Freundin verspürt, beschrieben, allerdings vermischt mit einem gewissen Ekel vor ihr. Der Wissenschaftler fühlt sich selbst pervers, dafür, dass er diese Frau anziehend findet. Zeitgleich ist er sich aber nicht einmal sicher, ob er sie überhaupt anziehend findet, denn jetzt, nach dem Sex, widert ihn ihr Käferkopf sogar irgendwie an. Zeitgleich spürt er aber eine tiefe Verbindung zu ihrer Persönlichkeit.
Als ich das gelesen habe, war ich sofort gefesselt. Ja, wenn man es so simpel zusammengefasst liest, mag es ein wenig … seltsam wirken, aber dennoch ist das ein verdammt interessanter Konflikt, den ich so bis dahin in Fantasy noch nicht behandelt gesehen habe. Vor allem nicht aus der Perspektive der Hauptfigur.
Ein etwas bekannteres Zitat von China Miéville lautet:
»Tolkien is the wen on the arse of fantasy literature. His oeuvre is massive and contagious—you can’t ignore it, so don’t even try.«
China Miéville über Tolkien
Und auch, wenn ich der Härte dieses Zitates nicht unbedingt zustimme (und China Miéville selbst auch nicht mehr, Jahre später fand er wesentlich versöhnlichere Worte für Tolkien), beschreibt es ganz gut, was die Bücher der Bas-Lag Trilogie ausmacht: China Miéville macht es Leser:Innen nicht unbedingt leicht, etwas darin wiederzufinden, das sie kennen.
Ich meine es ernst: Diese Bücher sind bis zum Rand gefüllt mit absolut genialen Ideen. Und zwar so sehr, dass sie allein dadurch, dass man mehr über die Welt erfahren will, zum Page-Turner werden. Sei es die gewaltige Stadt New Crobuzon, in der die Handlung spielt, die so komplex und voller Leben ist, in der es auf der einen Seite Kunst und Kultur gibt, die einem nähergebracht wird, und auf der anderen Seite Kriminalität, mafiöse Strukturen, Schmutz und Gewalt (und einen Mafiaboss, der im Grunde eine krankhafte Vermischung von dutzenden Lebewesen ist); seien es die verschiedenen intelligenten Spezies, die absolut glaubhaft und verdammt komplex in diese Welt eingearbeitet wurden, seien es die verschiedenen Arten von Magie, die im Grunde wie Wissenschaften behandelt werden. Egal welches von diesen oder allen möglichen anderen Elementen man herauspickt: Es wird stets unfassbar interessant sein, manchmal befremdlich oder sogar verstörend, aber immer extrem glaubhaft und komplex.
Das ist eine der bemerkenswertesten Eigenschaften von China Miévilles Büchern: Egal wie abgefahren und merkwürdig manche der Ideen sind, sie werden immer so eingearbeitet, dass sie absolut glaubhaft und realistisch erscheinen.
Aber genug geschwärmt, weiter im Text.
Den Einfluss von China Miéville auf mein Schreiben konnte man in den letzten Jahren recht klar sehen. Und zwar: New Weird. Sobald man sich mit China Miéville beschäftigt, wird man unweigerlich auch auf diesen Begriff stoßen. Auch ich selbst habe in den letzten Jahren diesen Begriff sehr oft benutzt und fast schon zu meinem Branding gemacht.
Nun die Frage: Was ist New Weird?
Die Antwort darauf ist nicht so leicht zu finden. Ich selbst habe zu Anfang geglaubt, New Weird wäre ein Genre, und zwar genau das Genre, in dem die Bücher von China Miéville stattfinden. Eine Mischung aus Fantasy, Science-Fiction und Horror. So einfach ist das allerdings nicht, denn im Laufe der Jahre gab es viele Diskussionen darüber, ob New Weird jetzt ein Genre ist, oder eine Bewegung, oder einfach ein Moment in der Literaturgeschichte.
Beim Versuch, mehr über die Einordnung des Begriffes New Weird zu finden, bin ich auf diesen Artikel auf Fantasyguide gestoßen, der das ganze extrem gut und interessant aufarbeitet. Viele der Informationen im restlichen Text beziehen sich auf diesen Artikel.
Fangen wir am besten mit dem Begriff selbst an. Zum ersten Mal tauchte er Anfang der 2000er Jahre auf, und zwar im Vorwort zu Miévilles Kurzroman »The Tain«. Dieses wurde allerdings nicht von Miéville selbst verfasst, sondern von M. John Harrison. Wenig später startete eben dieser einen Thread im TTA-Press Forum, in dem es um diesen Begriff ging. So entstanden einige Diskussionen zwischen Autoren wie eben M. John Harrison, China Miéville, aber auch Jeff Vandermeer und viele anderen waren beteiligt. Es ging darum, was New Weird ist, welche aktuellen Werke man dem zuordnen könnte, ob es überhaupt ein Genre oder viel mehr eine Bewegung mehrerer Autoren darstellt, die der Fantasy einen neuen Anstrich geben wollten. Dabei wehrten sich viele der Diskussionsteilnehmer dagegen, sich im New Weird einzuordnen, weil dies sie zu sehr beschränke.
Wie es so oft ist, führten die Diskussionen zu keiner Einigung. Es konnten lediglich einige Faktoren festgemacht werden, die New Weird ausmachen. Diese Faktoren sind:
• New Weird Werke sollen eine gewisse, befremdende oder sogar verstörende Wirkung erzielen. Da China Miéville sich zum Teil auf Autoren wie H. P. Lovecraft beruft, ist die Nähe zur allgemeinen Weird Fiction gegeben. Dies sind oftmals Werke, die als Horror bezeichnet werden, jedoch mit »weirderen« Elementen arbeiten, wie der Name schon verrät.
• New Weird soll Genre-Grenzen aufbrechen. Es soll Fantasy mit Science-Fiction und Horror vermischen und dadurch neuere, interessantere Ansätze schaffen. An diesem Ansatz gab es vereinzelt die Kritik, dass Genre-Grenzen aus gutem Grund existieren und man diese nicht einfach so vermischen sollte.
• New Weird soll sowohl moralisch als auch politisch komplex sein. Das beinhaltet vor allem keine stereotype Darstellung von verschiedenen intelligenten Spezies und keine Simplifizierung von politischen und gesellschaftlichen Prozessen. Außerdem gibt es im New Weird, im Gegensatz zu Tolkien, kein klassisches Schwarz und Weiß.
Auf diese drei Punkte lässt sich der Begriff New Weird, stark vereinfacht, herunterbrechen.
Die Frage, die aber dennoch bleibt: Was ist New Weird denn dann? Ist es nun eine Bewegung von Autoren, die mit ihren Werken genau diese Effekte erzielen wollen, oder ist es ein Genre?
Die Annahme, dass New Weird eine Bewegung ist, kann man relativ leicht ausschließen. Allein, dass in den Forums-Diskussionen so viele verschiedene Meinungen gegeneinanderstanden, dass es keine geeinte Ansicht davon gibt, was New Weird denn schlussendlich ist, spricht dagegen. Die Autoren, die damals diskutiert haben, haben kein geeintes Ziel, auf das sie mit ihren Werken zusteuern.
China Miéville selbst sagte:
»New Weird – like most literary categories – is a moment, a suggestion, a tease, an intervention, an attitude, above all an argument. You cannot read off a checklist and say ‘x is in, y is out’ and think you’ve understand what’s at stake or what’s being argued.«
China Miéville über New Weird
Ich selbst habe New Weird in den letzten Jahren wie ein Genre behandelt, und wenn ich Texte über diesen Begriff lese, tun sie es meistens auch. Allerdings stelle ich mir die Frage: Reichen die drei oben aufgeführten Kriterien aus, um ein Genre zu bilden? Im Grunde sind es Spezifikationen, die auch innerhalb jedes anderen Genres getroffen werden können. Außerdem gibt es noch immer eine gewisse Nähe zur viel einfacher zu erklärenden Weird Fiction – die Abgrenzung der beiden voneinander ist nur schwer möglich. Hinzu kommt: Selbst, wenn alle drei Kriterien auf einen Text zutreffen, kann er trotzdem komplett anders als ein anderer sein, der die Kriterien auch erfüllt. Als Genrebezeichnung taugt der Begriff also auch nicht unbedingt, denn würde mich jemand nach einer New Weird Empfehlung fragen, könnte ich ihm ein Werk empfehlen, dass grundverschieden zu dem ist, was er sich erhofft hat. Außerdem ist es im Grunde nur eine weitere Aufspaltung und Spezifizierung von anderen Genres, für die es bereits Bezeichnungen gibt.
Im Artikel von Fantasyguide wird New Weird im Fazit als eine Strömung bezeichnet. Ich denke, das trifft es sehr gut: New Weird ist eine Tendenz in der phantastischen Literatur, befremdliche und komplexe Bücher zu schreiben, die Genre-Grenzen aufbrechen.
Ich selbst habe mich dafür entschieden, meine Bücher nicht mehr dem New Weird als Genre zuzuordnen, obwohl ich das in den letzten Jahren getan habe, und obwohl es so ein fancy Begriff ist (Ja, ich muss zugeben, dass das auch ein Faktor bei der Entscheidung war, meine Geschichten als New Weird zu bezeichnen. Klar, es passt auch gut, aber es klingt vor allem cool). Von der Einstellung her sehe ich mich absolut innerhalb des New Weird Kosmos. Alle drei wichtigen Kriterien wollte ich in meinen Texten erfüllen, schon bevor ich überhaupt wusste, was New Weird ist.
Aber letztendlich ist es eher hinderlich, die eigenen Texte als New Weird zu betiteln. Genres sind unter anderem dazu da, jemandem mit einem schnellen Stichwort grob zu beschreiben, was man für ein Buch vorliegen hat. Und dann ein Genre zu nennen, welches man erst einmal mit einem Artikel wie diesem erklären muss, ist eher kontraproduktiv.
Also ja: Ich schreibe düstere Fantasy und versuche dabei möglichst komplexe Handlungen und Charaktere zu entwerfen. Gleichzeitig sehe ich mich auch als Teil der New Weird Strömung. Das vereinfacht die Dinge.
Am Ende möchte ich aber nochmal festhalten: Egal, welche Werke der Begriff New Weird jetzt einfasst oder nicht – die Bas-Lag Bücher von China Miéville passen auf jeden Fall da rein. Es sind Bücher, die gefüllt sind mit genauso genialen wie interessanten Ideen, großartigen Charakteren, einer unfassbar komplexen Welt und einer Handlung, die, obwohl sie so schwer zusammenzufassen ist, absolut spannend ist. Wenn ihr eins aus diesem Artikel mitnehmen wollt, dann das: Lies was von China Miéville.